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Hätte, hätte... Fahrradkette

So sehr ich etwas auch bedaure, die Zeit zurückdrehen zu können, wird pures Wunschdenken bleiben.

Was wäre gewesen, wenn ich es nicht dauerhaft in die Abstinenz geschafft hätte, hätte ... Fahradkette; arbeitslos, obdachlos, allein oder alles miteinander? Ich weiß es nicht. Mich hat damals die Angst getrieben. Die Angst vor dem was hätte kommen können.

Ich bin mir sicher, bei allen Alkoholikern gab es wenigstens einen Moment der Erkenntnis, einen Moment, in dem wir innehielten und Angst bekamen. Vielleicht war es auch ein positiver Motivator und wir waren plötzlich voller Zuversicht. Wir merkten auf, reflektierten, erkannten und gingen unerwartete Wege. Wir entschieden uns anders, ganz gegen unser bisheriges Verhalten.

Einer dieser Momente war bei mir der Entzug der Fahrerlaubnis nach meinem insgesamt dritten schweren Autounfall an Heiligabend 1991. Ein weiterer Moment war während eines Gespräches mit meinem Arzt morgens am achten Mai 1992. Er erklärte mir, dass ich nach über vier Monaten Therapie einen neuen Schritt gehen müsse, dass ich mich weiterbewegen solle.
Mir zog es den Boden unter den Füßen weg. Ich bekam Angst um mein Leben. Wollte ich etwa sterben? Legte ich es darauf an oder wollte ich leben? Ich wählte instinktiv das Leben, die Therapie und die Veränderung. Zwölf Stunden später - am selben Freitag im Mai 1992 - habe ich aufgehört zu saufen.

Der Klischee-Alkoholiker - das personifizierte Stigma - den die meisten spontan vor Augen haben, sitzt auf den Treppen der Frankfurter Konstabler Wache; schmutzig, lallend und mit marodem Gebiss. Wenn im Allgemeinen von Suchterkrankungen gesprochen oder geschrieben wird, haben viele schnell einen diffusen Komplex aus psychotropen Substanzen, Bahnhofstoiletten und abgemagerten obdachlosen Gestalten vor Augen. In meinen Ausführungen vor den Schülern erweitere ich dieses Bild, um die Alkoholiker, die zum Beispiel viele Meter höher in den Türmen sitzen, für die Frankfurt so berühmt ist.
Ein Klischee für die ganze Wahrheit zu halten, wiegt in trügerischer Sicherheit. Sucht beginnt schon sehr früh und Selbstbetrug ist in diesem Fall lebensgefährlich.

Aber hätte, hätte ... Fahrradkette. Ich bin entkommen und manchmal versetzt mich die Erinnerung noch immer in eine kleine Schockstarre. Meine Erfahrungen grenzen tatsächlich schon an das Klischee. Ich hätte wohl auch dort unter der Brücke in Frankfurt gelegen.

Lassen sie die tollen Bilder von Bernd Kinghorst auf sich wirken. Das Ende meiner Geschichte ist ja ein gutes, mit einer enormen inneren Ruhe und allem drum und dran. Ich habe vieles verstanden, manches wie kein Zweiter, und es gäbe mein Buch nicht, wenn ich es anders gemacht hätte, hätte ... Fahrradkette.
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